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Freitag, 15. Juli 2016

New York Times: Ein saudischer Moralpolizist rief auf zu einem liberaleren Islam. Dann begannen die Todesdrohungen. Teil 6

Teil 6: Ein unerwarteter Reformer


Das erste Mal, dass ich Herrn Ghamdi, 51, der früher bei der Religionspolizei arbeteite, traf, war dieses Jahr im Wohnzimmer in seiner Wohnung in Jiddah, der Hafenstadt am Roten Meer. Der Raum war so dekoriert, dass er aussah wie ein Beduinenzelt. Burgunderfarbene Vorhänge hingen an den Wänden, alte Teekessel hingen von der Decke und Teppiche bedeckten den Boden, auf den Herr Ghamdi bei den Gebeten in den Gesprächspausen seine Stirn presste.

Er sprach darüber wie sehr die Welt aus Scheichs, Fatwas und die minutiöse Anwendung der Religion bei allem sein Leben definiert hat.

Aber die Welt - seine Welt - hat ihn ausgeschlossen.

Wenig in seiner Biografie liesse vermuten, dass aus ihm ein religiöser Reformer werden könnte. Während seiner Universitätszeit kündigte er seinen Job in einem Zollbüro am Hafen von Jiddah, weil ihm ein Scheich sagte, dass das Einziehen von Zöllen haram sei.

Nach seinem Abschluss studierte er nebenbei Religion und kümmerte sich um die internationalen Konten einer Regierungsbehörde - ein Arbeitsplatz, der auch Reisen in nichtmuslimische Länder beinhaltete.

"Die Kleriker damals gaben Fatwas heraus, die nicht erlaubten in Länder von Ungläubigen zu reisen, es sei denn es war unbedingt notwendig," sagte Herr Ghamdi.

Daher kündigte er.

Dann unterrichtete er Ökonomie an einer Technikschule in Saudi Arabien, aber fand es nicht gut, dass nur Kapitalismus und Sozialismus auf dem Lehrplan standen. Daher so sagte er, fügte er Aspekte islamischer Finanzierungsmodelle hinzu, aber die Studenten beschwerten sich über die Extraarbeit, weswegen er ging.

Am Ende bekam er eine Stelle, von der er fühlte, dass sie seinen religiösen Überzeugungen entsprach, es war bei der Kommission in Jiddah.

Über die nachfolgenden Jahre wurde er nach Mekka versetzt und machte verschiedene Positionen durch. Es gab hin und wieder Prostitutionsfälle und die Behörde schnappte gelegentlich Magier - die mit der Enthauptung rechnen müssen, wenn sie schuldig gesprochen werden.

Aber er entwickelte Zweifel darüber, wie die Kommission arbeitete. Der religiöse Eifer seiner Kollegen führte manchmal zu Überreaktionen, etwa dem Einbruch in Privathäuser oder doe entwürdigende Behandlung von Insassen.

"Nehmen wir an, jemand trank Alkohol," sagte er. "Das ist kein Angriff auf die Religion, aber sie haben es völlig übertrieben, wie sie mit den Leuten umgingen."

Einmal wurde Herr Ghamdi damit beauftragt Fälle nachzuprüfen und nutzte seine Position um Missbrauch durch Beamte zu berichten, die konfiszierte Gegenstände nicht zurückgegeben haben, sagte er.

Er erinnerte sich an den Fall eines älteren, alleinlebenden Mann, von dem berichtet wurde, dass er an Wochenenden zwei junge Frauen bei sich in der Wohnung empfing. Da der Mann nicht zur Moschee ging vermuteten seine Nachbarn, dass da was im Busch war, weswegen die Kommission sein Haus durchsuchte und den Mann in flagranti erwischte - beim Besuch seiner Töchter.

"Oftmals werden Menschen in unmenschlicher Weise entwürdigt und diese Entwürdigung kann Hass auf die Religion verursachen," sagte Herr Ghamdi.

2005 starb der Chef der Kommission in Mekka und Herr Ghandi bekam seine Stelle. Es war eine große Stelle mit etwa 90 Stationen in der großen, vielfältigen Region, welche die heiligsten Stätten des Islam beherbergt. Er tat sein bestes, hatte aber Sorgen, dass der Fokus der Kommission ein falscher war.

Privat schaute er durch die Schriften und Erzählungen des Propheten Mohammed, um Anhaltspunkte zu erhalten, was halal ist und was haram und er schrieb seine Erkenntnisse auf.

"Ich war überrascht, weil wir von unseren Gelehrten immer hören 'haram, haram, haram,' aber sie sprachen nie über die Gründe," sagte er.

Als er die Schwere einiger seiner Schlussfolgerungen in seiner Position erkannte, blieb er still und führte seine Aufzeichnungen trotzdem weiter.

Aber seine Schlussfolgerungen würden bald hochkommen.

Etwa zur Zeit, als er sein Weltbild neu ordnete hat der damalige König Abdullah Pläne für eine Universität der Weltklasse angekündigt, die König Abdullah Universität für Wissenschaft und Technologie, kurz Kaust. Schockierend für die religiöse Elite war die Entscheidung, die Studenten nicht nach Geschlechtern zu trennen, oder den Frauen einen Kleidungskodex vorzuschreiben.

Kaust folgte dabei Saudi Aramco, der staatlichen Ölgesellschaft, die ebenso von klerikalen Einflüssen abgeschottet ist und eine der großen Widersprüche Saudi Arabiens in sich trägt: Egal wie sehr die königliche Familie die islamischen Werte hochhält, wenn es ums Geldverdienen oder Innovationen geht, dann fragen sie nicht die Kleriker um Rat. Stattdessen ziehen sie eine Mauer hoch und schliessen sie aus.

Die meisten Kleriker bliben aus Respekt vor dem König still. Aber ein Mitglied des Spitzengremiums der Kleriker sprach das Thema bei einer Anrufsendung im Fernsehen an und warnte vor gemischtgeschlechtlichen Universitäten: Sexuelle Belästigung; Männer und Frauen flirten anstatt zu studieren; Ehemänner werden eiversüchtig auf ihre Frauen; Vergewaltigung.

"Das Vermischen beinhaltet viele korrumpierende Faktoren und das Böse daran ist stark," sagte der Klerier Scheich Saad al-Shathri, und fügte hinzu, dass wäre dem König der Plan bekannt gewesen, dann hätte er es verhindert.

In Wahrheit war das Vermischen die Idee des Königs und er war nicht erfreut. Er schmiss den Scheich per königlichem Dekret raus.

Herr Ghamdi schaute aus seinem Büro in Mekka zu und war verärgert, dass die Kleriker das Projekt nicht unterstützten, da er es für gut für das Königreich erachtete.

Nachdem er darüber betete dampfe er seine Aufzeichnungen auf zwei lange Artikel runter und veröffentlichte sie 2009 in der Zeitung Okaz.

Das waren die ersten Streiche in einem Jahre andauernden Kampf zwischen Herrn Ghamdi und der religiösen Elite. Es folgten andere Artikel, er ging ins Fernsehen und wies andere Kleriker zurück die ihn beleidigten und eigene Beweise aus den Schriften vorlegten. Seine Kollegen bei der Kommission mieden ihn, weswegen er seine - schnell bewilligte - Frühpensionierung beantragte.

Einmal weg von der Behörde hinterfragte er andere Praktiken: Die erzwungene Ladenschliessung während der Gebetszeiten und das drängen der Leute in die Moscheen, die erzwungene Gesichtsverschleierung und das Autofahrverbot für Frauen.

Jeder Kommentar lößte ein neues Inferno aus. Eine Frau fragte ihn einmal auf Twitter, ob sie nicht nur ihr Gesicht zeigen könne, sondern sich auch schminken dürfe. Sicher, sagte Herr Ghamdi, und löste einen weiteren Angriff aus.

2014 trat er dann in einer beliebten Talkshow auf und die Produzenten filmten ein Stück mit ihm und seiner Frau, die beim Auftritt ihr Gesicht zeigte und sagte, sie würde ihn unterstützen.

Von der religiösen Elite hagelte es harsche Antworten.

Viele griffen seine religiösen Kredenzien an und sagten er sei nicht wirklich ein Scheich - ein seltsamer Vorwurf, da es dafür keinen Standard gibt. Sie zielten auch auf seinen Lebenslauf und sagten er hätte keinen Abschluss in Religion und wiesen korrekterweise darauf hin, dass sein Doktortitel von der Botschaftsuniversität sei, einer Titelmühle, die ihre Abschlüsse auf Basis von Arbeitserfahrung "im Mittleren Osten" vergibt.

"Es gibt keine Zweifel, dieser Mann ist schlecht," sagte Scheich Saleh al-Luheidan, ein Mitglied der klerikalen Spitze. "Es ist angebracht, dass der Staat jemanden abberuft, um ihn zu foltern."

Der Großmufti sprach die Sache in seiner Sendung an und sagte, die Verhüllung sei "eine notwendige Anordnung und eine islamische Erfindung" und rief die Fernsehsender des Königreichs dazu auf alle Inhalte zu sperren, welche "die Religion korrumpieren und die Moral und die Werte der Gesellschaft gefährden."

Während die Angriffe der Kleriker auf Herrn Ghamdi laut waren, so waren die Reaktionen aus dem Volk schmerzhaft. Sein Stamm veröffentlichte eine Stellungnahme, enterbte ihn und verortete ihn "in einer Krise und verwirrt." Sein Handy klingelte Tag und Nacht und die Anrufer schrien ihn an. Er kam nach Hause und fand Graffiti an der Hauswand. Und eine Gruppe Männer kam zu seiner Tür und forderte, sich mit den Frauen der Familien zu "mischen". Seine Söhne - er hat neun Kinder - riefen die Polizei.

Vor dem Aufruhr gab Herr Ghamdi in einer Moschee in Mekka die Freitagspredigt und verdiente sich ein Regierungsstipendium. Aber die Gemeinde beschwerte sich nach seinem öffentlichen Einspruch, weswegen er gebeten wurde zu Hause zu bleien und verlor danach seine Bezüge.

Herr Ghamdi hat kein Gesetz gebrochen und musste nie vor Gericht erscheinen. Aber dank Saudi Arabiens engstirnigeer Gesellschaft hallte das Echo der Angriffe gegen ihn bis in die Familie rein. Die Verwandten der Verlobten seines ältesten Sohnes sagten die Hochzeit ab, weil sie nicht mit solchen Leuten zu tun haben wollten.

"Stehst du zu deinem Bruder oder zu mir?" sagte Herr Ghamdi hätte der Ehemann seiner Schwester sie gefragt. "Sie sagte. 'Ich stehe zu meinem Bruder.'" Bald darauf kam die Scheidung.

Herr Ghamdis Sohn Ammar, 15 wurde in der Schule verfolgt. Ammar sagte, ein anderer Schüler fragte ihn einmal: "Wie kam deine Mutter nur ins Fernsehen? Das ist nicht richtig. Du hast keine Manieren."

Darauf hat ihm Ammar eine gegeben. weiter hier



Teil 1: Ein saudischer Moralpolizist
Teil 2: Probleme im Verständnis
Teil 3: Fragt erst gar nicht nach Schwulenrechten
Teil 4: Was ist ein Wahhabi?
Teil 5: Ein Durcheinander an Fatwas
Teil 6: Ein unerwarteter Reformer
Teil 7: Kein Platz für Einsprüche
Teil 8: Reform auf die harte Tour




Im Original: A Saudi Morals Enforcer Called for a More Liberal Islam. Then the Death Threats Began.

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