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Freitag, 15. Juli 2016

New York Times: Ein saudischer Moralpolizist rief auf zu einem liberaleren Islam. Dann begannen die Todesdrohungen. Teil 4

Teil 4: Was ist ein Wahhabi?


Das erste, was einem viele Saudis über Wahhabismus erzählen ist, dass Wahhabismus gar nicht existiert.

"Es gibt so etwas wie Wahhabismus nicht," meinte Hisham al-Scheich zu mir beim ersten Treffen. "Es gibt nur den wahren Islam."

Die Ironie daran ist, dass es nur wenige Menschen mit einem reineren wahhabischen Stammbaum gibt als Herr Sheich, der ein direkte Nachfahre des Mannes ist, mit dem alles begann.

Im frühen 18. Jahrhundert hat Scheich Mohammed ibn Abdul-Wahhab in Zentralarabien zu einer religiösen Reformation aufgerufen. Er hatte das Gefühl, dass der Islam korrumpiert wurde durch Praktiken wie der Heiligenanbetung oder Grabmahlen, weswegen er zur Zerstörung der "Innovationen" aufrief, um zurück zu dem zu gehen, was er als die pure Religion erachtete.

Er ging eine Allianz ein mit einem Häuptling namens Mohammed ibn Saud, welche die Geschichte des Gebietes bis heute prägt. Das Haus von Al Saud hat nachfolgend die politische Führung übernommen, während Scheich Abdul-Wahhab und seine Nachfahren ihnen die Herrschaftslegitimation gaben und sich um die religiösen Belange kümmerten.

Die Mischung erwies sich als Erfolg unter den rivalisierenden arabischen Stämmen, zumal die wahhabischen Kleriker in einigen Fällen auch militärische Feldzüge legitimierten: Jene, die dem Haus von Al Saud widerstanden waren nicht nur Feinde, sondern Ungläubige, die das Schwert verdienten.

Der erste Saudi Staat wurde 1818 von den Osmanen geschliffen und Versuche zum Aufbau eines neuen gingen schief bis zum frühen 20. Jahrhundert, als König Abdulaziz al-Saud sich aufmachte, die Kontrolle fast der ganzen arabischen Halbinsel an sich zu reissen.

Der König musste dann wählen: Weitermachen mit dem expansionistischen Dschihad, der auf einen Konflikt mit den Briten herausgelaufen wäre, oder einen modernen Staat aufbauen. Er wählte letzteres und vernichtete dabei sogar eine Gruppe der eigenen Kämpfer, die sich weigerten die Waffen niederzulegen.

Seitdem gibt es die enge Allianz zwischen dem Königshaus und den Klerikern, auch wenn es immer wieder Spannungen gibt innerhalb der saudischen Gesellschaft, die zwischen dem Drang nach ideologischer Reinheit und den Notwendigkeiten, die ein moderner Staat mit sich bringt eingespannt sind.

Zurück zu 2016, wo sich die Hauptakteuere verändert haben, weil es die Zeit und der Ölreichtum erforderten. Die königliche Familien, einst eine Gruppe verwegender Wüstenbewohner, hat sich in einen glitzernden Clan verwandelt inklusive Palästen und Privatjets. Die Wahhabi Elite widerum begann als puritanische Reformbewegung und betreibt heute eine aufgeblasene Staatsbürokratie.

Sie betreiben Universitäten, die Abgänger in religiösen Disziplinen hervorbringen; ein Justizsystem, bei dem die Richter streng die Scharia einhalten; es gibt einen Rat an Spitzenklerikern, die den König beraten; ein Netzwerk an Behörden, die Fatwas, also Religiöse Meinungen herausgeben; die Religionspolizei überwacht das öffentliche Verhalten; und abgerundet mit zehntausenden Moscheeimamen, welche bei Bedarf Regierungsmitteilungen von der Kanzel predigen.

Der Ruf zum Gebet ertönt fünf Mal am Tag von den Moscheen und in den Einkaufszentren und ist so prägnant, dass viele Saudis ihren Tag danach ordnen.

"Lass nach dem Abendgebet treffen," sagten sie mir dann, manchmal ohne zu wissen, wann es genau ist. Ich habe mir dann eine Anwendung auf dem Handy installiert, welche die Gebetszeiten anzeigt und vibriert wenn es so weit ist.

Und so war es dann auch, dass ich mich nach dem Abendgebet mit Herrn Scheich traf, einem stolzen Nachkommen von Mohammed ibn Abdul-Wahhab der sechsten Generation.

Er war ein würdevoller, 42 Jahre alter Mann, der eine lange weiße Robe trug und auf seinem Kopf einen Schmag trug, ein kariertes Tuch. Sein Bart war lang, er hatte in Anlehnung an den Propheten Mohammed keinen Schnäuzer, und er schielte durch seine Lesebrille, als der mit seinem iPhone hantierte.

Wir saßen auf lila Sesseln in der musikfreien Lobby eines Hotels in Riad und teilten Informationen und Kaffee, während er mir Fragen über den Islam in Saudi Arabien beantwortete.

"Ich bin eine aufgeschlossene Person," sagte er mir zu Beginn.

Es war offensichtlich, dass er hoffte, ich würde ein Moslem werden.

Sein Leben ist durchdefiniert von der religiösen Elite, aber er erwies sich als ein perfektes Beispiel für das Spannungsverhältnis zwischen "modern" und "traditionell" im heutigen Saudi Arabien. Er prägte sich schon in jungen Jahren den Koran ein und studierte bei prominenten Klerikern, bevor er in Schariarecht zur Frage promovierte, inwiefern Technologie die Anwendung der Scharia veränderte.

Heute hat er eine erfolgreiche Karriere und bietet viele religiöse Arbeitsplätze. Er bildete Richter für Schariagerichte aus, wies Minister in Islamische Angelegenheiten ein, schrieb Studien für Kleriker, welche den König beraten und diente im Schariarat der Medgulf Versicherung. An Freitagen betet er in einer Moschee in der Nähe wo seine Mutter lebt und lädt Gäste ein, die seinen Onkel, den Großmufti, besuchen wollten.

Er begab sich auf ausgiebige Auslandsreisen und als er herausfand, dass ich Amerikaner bin sagte er, er würde die Vereinigten Staaten lieben. Er besuchte Oregon, New York, Massachusetts und Los Angeles. Bei einer Reise besuchte er eine Synagoge. Bei einer anderen eine Schwarzenkirche. Er besuchte auch eine Amisch Gemeinde, die er faszinierend fand.

Ein Verwandter von ihm lebt in Montgomery in Alabama und verbrachte viele glückliche Monate bei ihm und besuchte oft das dortige islamische Zentrum. Der schwerste Teil, sagte er sei der Ramadan, weil es nur wenige Essgelegenheiten gibt, die Abends Essen seriveren und keine Bar haben.

"Alles was ich hatte war IHOP," sagte er.

Er sagte, im Islam wäre es nicht verboten Geschäften oder Freundschaften mit Christen oder Juden nachzugehen. Er wandte sich gegen den schiitischen Glauben und deren Praxis, wandte aber ein, dass es falsch wäre, wie es der Islamische Staat mache, einzelnen oder ganzen Gruppen Takfir vorzuwerfen, also Abfall vom Glauben.

Wenn es um Geburtstage geht, die viele saudische Kleriker verdammen, sagte er, er wäre nicht gegen sie, obwohl seine Frau dagegen wäre, und weshalb seine Kinder nicht zu Kindergeburtstagen gehen dürften. Aber sie hätten eigene Feiertage sagte er, und zeigte mir auf seinem Handy ein Video, wie seine Familie sich um einen Kuchen versammelte auf dem das Gesicht seines 15 Jahre alten Sohnes Abdullah abgebildet war, der gerade fertig wurde den Koran auswendig zu lernen. Sie haben dazu Wunderkerzen angezündet und gejubelt, aber nicht gesungen.

Musik stand er offen gegenüber, was viele Wahhabis ebenso ablehnen. Er sagte, er habe kein Problem mit Hintergrundmusik in Restaurants, aber sprach sich gegen Musik aus, welche die Zuhörer in einen Zustand der Trunkenheit versetzen, und weswegen sie herumspringen und sich ihre Köpfe einschlagen.

"Wir haben da was besseres," sagte er. "Man kann auch dem Koran zuhören."

Da ein Hauptmerkmal, das Saudi Arabien vom Rest trennt deren Umgang mit Frauen ist wollte ich auch mit einer konservativen saudischen Frau sprechen, was sich als schwierig entpuppt hat, da viele ein Treffen mit einem fremden Mann verweigern würden - von einem ungläubigen Journalisten aus den USA ganz abgesehen. Daher bat ich eine weiblich saudische Kollegin, Scheikha al-Dosary, Herrn Scheichs Ehefrau Meshael zu kontaktieren, die sich bereit erklärte sich mit mir zu treffen.

Aber ich wollte um Herrn Scheichs Zustimmung bitten.

"Sie ist ziemlich beschäftigt," sagte er und wechselte das Thema.

Daher traf Frau Scheich Frau Dosary in einem Frauencafe in Riad, wo sich die Frauen ohne Kopftuch aufhalten können.

Ihre Ehe mit Herrn Scheich wurde arrangiert, sagte sie. Sie trafen sich weniger als eine Stunde lang, bevor die Ehe geschlossen wurde und er durfte dabei ihr Gesicht sehen.

"Es war schwer für mich ihn anzusehen, weil ich so schüchtern war," sagte sie.

Sie waren Cousins. Er war 21; sie war 16. Er stimmte ihrer Ehebedingung zu, wonach sie weiterhin studieren dürfte, und heute arbeitet sie an ihrer Dissertation im Bildungsbereich, während sie gleichzeitig die vier Kinder großzieht.

Sie widersprach der westlichen Sichtweise, dass Frauen in Saudi Arabien zu wenige Rechte hätten.

"Sie glauben, dass wir unterdrückt sind, weil wir nicht Autofahren dürfen, aber das ist falsch," sagte Frau Scheich und fügte an, dass das Autofahren in
in Riads Verkehr sowieso viel zu stressig sei.

"Hier werden Frauen in vielerlei Hinicht respektiert und geehrt, wie man es im Westen nicht findet," fuhr sie fort.

Auch sie ist eine Nachfahrung von Scheich Abdul-Wahhab und merkt stolz an, dass ihr Großvater die Religionspolizei des Landes gegründet hat. "Gelobt sei Gott, dass wir die Kommission haben, die das Land schützt," sagte sie. weiter hier



Teil 1: Ein saudischer Moralpolizist
Teil 2: Probleme im Verständnis
Teil 3: Fragt erst gar nicht nach Schwulenrechten
Teil 4: Was ist ein Wahhabi?
Teil 5: Ein Durcheinander an Fatwas
Teil 6: Ein unerwarteter Reformer
Teil 7: Kein Platz für Einsprüche
Teil 8: Reform auf die harte Tour




Im Original: A Saudi Morals Enforcer Called for a More Liberal Islam. Then the Death Threats Began.

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