Euroskeptizismus. Von Peter Foster, 31. Mai 2016
Mit der Belagerung von so vielen Seiten wirkt der Traum eines "vereinten Europa" durch die Verträge von Maastricht und den nachfolgenden von Lissabon - um eine kürzlich gehaltene Rede von Donald Tusk zu zitieren - wie "eine Illusion".
"Sollten wir heute nicht begreifen, dass die Utopie eines neuen Europas völlig unrealisitisch ist," meinte er Anfang des Jahres bei einer Veranstaltung der EU gegenüber Kommunalpolitikern, "dann heisst das nicht, dass die EU als Idee tot sein muss, aber vielleicht, dass die Europäer politisch zurück zum gesunden Menschenverstand wollen."
Mit der Definition, wie ein Europas des "politischen gesunden Menschenverstandes" aussehen könnte und wie es agieren würde, wäre es die überragende politische Herausforderung für all jene, die das Europäische Projekt in die Zukunft retten und neudefinieren wollen.
Mit der Ankündigung eines EU Referendums von 2013 hat David Cameron dazu aufgerufen, eine neue Gemeinschaft zu gründen, "in der Mitgliedsstaaten flexibel kooperieren und nationale Unterschiede akzeptiert werden," als es aber zu Verhandlungen kam, hat er nur einige Optionen des Nichtmitmachens für die Briten herausgeholt.
Gespräche über einen größeren Umbau wurde vor allem von Frankreich, Belgien und einem beinharten Kern der Eurozone verhindert. Aber die Aussicht auf einen engeren Kern mit der Eurozone weckt Zweifel, wie eine losere "vielförmige" Union mit vielen Währungen aussehen sollte.
Jede Lockerung des Bundes wird vom Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Junker verbannt, der kürzlich einräumte, dass Europa sich "zu sehr" in das tälgiche Leben einmischt, aber dann auch warnte, dass die Forderung von "mehr nationalen Dingen" auf Kosten der Europäischen Prinzipien die Menschen "schutzlos" machen würde.
Was auch immer für eine "Neugründung" entstehen würde - und es könnte mit einem Kollaps der Eurozone, oder einem externen Schock wie dem Brexit erzwungen werden - die Forderungen nach Richtungsänderungen sind ganz klar am wachsen.
Überall auf dem Kontinent gibt es Zeichen, dass viele der nationalen Verärgerungen auf Brüssel gerichtet sind, das seine Stellung zu verlieren beginnt und selbst und das sogar bei Kernländern Europas, die traditionell ihre EU Mitgliedschaft hochgehalten haben.
Eine Umfrage durch MORI über den Europatag dieses Jahr fand heraus, dass 48 Prozent der Italiener und etwa vierzig Franzosen und Schweden sagten, sie würden mit "Austritt" stimmen, hätten sie die Gelegenheit bei einem Referendum über die EU Mitgliedschaft. In Frankreich kam bei einer Umfrage kürzlich heraus, dass nur 27 Prozent der Franzosen der EU vertrauen.
Selbst in den ärmeren baltischen und Osteuropäischen Staaten, wo die Mitgliedschaft als Bollwerk gegen Moskau betrachtet wird, wie auch als ein Weg zu EU Geldern und Arbeitsmöglichkeiten im Ausland, blättert der Lack des EU Projekts zunehmend ab. Umfragewerte in der tschechischen Republik
zum Vertrauen in die EU befinden sich am niedrigsten Punkt seit 2003, während Rumänien und Bulgarien verärgert sind über die Verschiebung ihres Beitritts zum Schengenraum.
"Alles war in Ordnung; bei der Erweiterung dachten alle, dass geröstete Tauben vom Himmel fallen würden und dann traf uns die Finanzkrise," sagt Dr Otilia Dhand, eine Osteuropäische Analystin für Teneo Intelligence, einer Analystengruppe für politische Risiken.
"Plötzlich streiten alle und Griechenland verlangt der kleinen Slowakei Hilfsgelder ab. Es gibt eine Enttäuschung - nicht, dass jemand eine bessere Alternative hätte - weswegen frustrierte Gruppen zurück zum alten Nationalismus gehen."
Der Mangel an vertrauenswürdigen Alternativen mag für das EU Projekt wie ein Schutzschild wirken vor einer unmittelbaren Auflösung, selbst wenn Frau Le Pen und Konsorten offen davon träumen, dass ein "Brexit" in Frankreich und anderswo auf dem Kontinent einen unaufhaltsamen Dominoeffekt auslösen würde.
Das ist laut Jerome Fourquet unwahrscheinlich, er ist Analyst für den französischen Umfragedienstleister IFOP, und meint, dass sie die "gleichgültige Akzeptanz" von Europa in Frankreich nicht einberechnet. Trotz aller Verärgerung: "Viele fühlen, dass es ein einsames und isoliertes Frankreich nicht machen würde."
Das EU Referendum am 23. Juni wird zeigen, ob das britische Wahlvolk ähnlich fühlt. Sollten sie für den Austritt stimmen, dann gibt es gute Chancen, dass sie nicht die einzigen sind, die gehen werden.
Die Frage, die Europa nun gestellt wird - und auch den Wählern beim britischen Referendum - ist, ob all diese Probleme, mit der die EU konfrontiert ist zu einer ehrlichen Reformierung führen wird entlang des Mantras des "gesunden Menschenverstandes", oder ob es früher oder später zu einem Zusammenbruch des Projektes kommen wird.
Die traditionelle dritte Möglichkeit, welche die EU in den letzten Jahren präferiert - sich durchwursteln und "die Büchse weiterzukicken" - ist zunehmend schwieriger aufrechtzuhalten.
Es gibt jene wie Charles Grant, der Direktor des Pro EU Zentrums für Europäische Reform, der sich die EU heute anschaut und sieht, dass - trotz aller unbezweifelbaren Probleme - die bemerkenswerte Tatsache darin besteht, dass es "überall so wirkt, als würde das Zentrum halten".
Trotz aller aufgewühlten Ängste durch die Anti-Austreritätsdemonstranten und den nationalistischen Start-Ups wie der AfD, wenn es ums Ganze geht, so meint er, dann bekommt die moderate Mehrheit noch immer was sie braucht. So war es auch als Frau Le Pen auf dem Weg zu echter Macht war, als sie die erste Runde der Regionalwahlen im Dezember gewann, als die zentristischen Parteien sich zusammen schlossen und sie besiegten - wie auch schon 2002, als ihre Vater Jean-Marie die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen erreichte.
Ähnlich ist es in Deutschland, wo die AfD in Umfragen gewinnt, aber die Geschichte des Landes und und die Mehrheit von Angela Merkels Koalition bedeuten, dass die AfD, auch wenn sie Sitze im Bundestag gewinnen sollte, nie einen Sitz in der Regierung des modernen Deutschland erhalten wird.
Wirtschaftlich deuten die Zeichen auch nach oben - die Eurozone begann mit einer Reform, und hat stärkere Fiskalkontrollen und eine bessere Bankenaufsicht aufgebaut, die helfen sollte, der nächsten Rezession zu trotzen, wann immer diese kommen mag. Und auch wenn die Stimulusprogramme der EZB spät gekommen sein mögen, sie haben mittlerweile das Wachstum angeregt.
Aus dieser Perspektive scheint der Einfluss der Protestpolitik übertrieben dargestellt. Selbst die einst radikale Syriza, die drohte, das Europäische Regelbuch zu zerreissen wurde gezwungen, Reformen anzustossen, an welche eine Schuldenentlastung gekoppelt ist, und sollte am Ende das hässliche Entlein der Eurozone stabilisieren.
Spanien ist dieses Jahr - obwohl es keine Regierung hatte - auch gut gewachsen und Portugal hat trotz der Sprüche über ein Ende der Austerität, ein Budget eingebracht, das mit Hilfe einiger Taschenspielertricks für die Europäische Kommission akzeptabel war.
Aber laut anderen Analysten ist all dies ein schwacher Trost, wenn man es in Relation zu den Problemen stellt, denen Europa ausgesetzt ist - und dem offenbaren Mangel an politischem Willen, diese zu lösen.
Das Auffinden von Lösungen für Europas wichtigste Probleme - Einwanderung, die Eurowährung, die wirtschaftliche Stagnation und das Niederhalten von Nationalismen - erfordert eine europaweite Kooperation zu einer Zeit, in der die nationale Politik in die exakt gegenteilige Richtung läuft.
Die AfD mag in Deutschland vielleicht nicht an die Regierung kommen, aber ihr Einfluss kann bereits jetzt gefühlt werden und schneidet Frau Merkels Handlungsrahmen ein - der bereits durch die Handhabung der Migrantenkrise eingeschränkt ist - der deutschen Wählerschaft irgendeine Art von gesamteuropäischer Wirtschaftspolitik zu verkaufen. In Frankreich mag Frau Le Pen nie Präsident werden, aber die Gefahr ihrer steigenden Beliebtheit hindert Francois Holland an der Zustimmung für das visafreie Einreisen von türkischen Geschäftsleuten und Touristen, was notwendig sein wird, um den Handel mit der Türkei am Leben zu erhalten.
In Großbritannien hat Ukip bei den letzten Wahlen scheinbar versagt, als sie nur einen Sitz in Westminster gewannen, aber das ist ein trügliches Zeichen für ihren Einfluss: Ukip hat mehr als 12 Prozent der Wähler gewonnen (dreimal so viele wie die schottische SNP, die 56 Sitze errang) und sie war zentral beim Erzwingen eines Referndums über die britische EU Mitgliedschaft, das den Kurs des gesamten Kontinents verändern könnte.
Und auch wenn es wahr ist, dass die Eurozone dank des billigen EZB Geldes wieder wähchst, so liegt die Gefahr einer Deflation noch immer in der Luft und die Auseinandersetzungen mit Deutschland zeigen klar, dass das Angehen des darunter liegende Problems mit einer Währungsunion ohne eine politische Union weiter entfernt ist als jemals zuvor.
Für Professor Bickerton könnte Europa schon über die Klinge gesprungen sein, ohne dass es uns bewusst ist. "Die EU handelt derzeit wie eine Zeichentrickfigur, die von einer Klippe gesprungen ist und nun wie wild mit den Armen rudert," sagt er. "An irgendeinem Punkt wird jeder begreifen, dass es nichts als dünne Luft gibt und dann wird das ganze Ding auf die Erde pumpsen."
Ob Europa es schafft seinen Halt wieder zu finden ist offen, aber wie die österreichische Präsidentschaftswahl gezeigt hat stehen das Establishment und die zentristischen Kräfte nun überall unter starkem Druck und da wird noch mehr kommen. In den Niederlanden steht die islamophobe Partei von Geert Wilders momentan an der Spitze der Umfragen mit Parlamentswahlen im März; Frankreich wird im April und Mai 2017 Präsidentschaftswahlen abhalten und wird Marine Le Pen - egal ob sie gewinnt oder verliert - eine umfassende Plattform bieten; so wird es auch für der AfD sein, wenn in Deutschland Präsidentschaftswahlen stattfinden. Anfang 2018 wird sich Österreichs weit rechts stehende Freiheitliche Partei bei den Parlamentswahlen einen weiteren großen Bissen an Macht nehmen können.
Aber der nächste größte Test kommt am 23. Juni: Die Konsequenzen eines Brexit - der noch immer möglich ist bei einer niedrigen Wahlbeteiligung - könnten sich als wahrhaftig monumental erweisen.
Warum hat Europa die Schnauze voll? Teil 1: Einleitung
Warum hat Europa die Schnauze voll? Teil 2: Politik
Warum hat Europa die Schnauze voll? Teil 3: Wirtschaft
Warum hat Europa die Schnauze voll? Teil 4: Nationalismus
Warum hat Europa die Schnauze voll? Teil 5: Einwanderung
Im Original: Why is Europe so fed up?
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