Montag, 12. September 2016

Project Syndicate: Die Flüchtlinge retten, um Europa zu retten


Von George Soros, 12. September 2016

Die Flüchtlingskrise in Europa drückte die Europäische Union bereits in Richtung einer Desintegration, als sie am 23. Juni dabei half, die Briten für den Brexit stimmen zu lassen. Die Flüchtlingskrise und das dadurch verursachte Unglück des Brexit haben xenophobe und nationalistische Bewegungen bestärkt, welche die anstehende Serie von Wahlen gewinnen wollen - darunter die Landeswahlen in Frankreich, den Niederlanden und in Deutschland 2017, dazu ein Referendum in Ungarn über die EU Flüchtlingspolitik am 2. Oktober und die Wahlwiederholung der österreichischen Präsidentschaft am selben Tag.

Anstatt dieser Gefahr gemeinsam zu begegnen wurden die EU Mitgliedsstaaten zunehmend unwillig miteinander zu kooperieren. Sie verfolgen eine eigennützige, die Nachbarschaft bedrohende Migrationspolitik - etwa mit dem Bau von Grenzzäunen - welche die Union noch weiter fragmentieren wird, die Mitgliedsländer ernsthaft beschädigt, und die weitweiten Menschenrechtsstandars unterminiert.

Die momentane stückchenweise Antwort auf die Flüchtlingskrise, welche in einer Vereinbarung dieses Jahr zwischen der EU und der Türkei kulminierte, und worin der Fluss der Flüchtlinge über das östliche Mittelmeer bewältigt werden sollte, leidet an vier fundamentalen Fehlern. Erstens ist das vereinbarte nicht wirklich europäisch; die Vereinbarung mit der Türkei wurde Europa von der deutschen Kanzlerin Angela Merkel aufgezwungen. Zweitens ist das ganze stark unterfinanziert. Drittens hat es Griechenland in einen de facto Warteraum ohne angemessene Einrichtungen umgewandelt.

Am wichtigsten aber ist, dass die Reaktion nicht freiwillig erfolgte. Die EU versuchte Quoten zu bestimmen, die von vielen Mitgliedsländern völlig abgelehnt werden, wodurch die Flüchtlinge dazu gezwungen sind sich in Ländern niederzulassen, wo sie nicht willkommen sind und wo sie nicht hinwollen, wobei wiederum andere in die Türkei zurückgeschickt werden, weil sie Europa auf illegalem Weg erreichten.

Das ist unglücklich, weil die EU nicht überleben kann ohne eine umfassende Asyl- und Migrationspolitik. Die gegenwärtige Krise ist kein einmaliges Ereignis; sie steht viel mehr am Beginn einer Phase mit einem erhöhten Migrationsdrucks für die absehbare Zukunft, und zwar aus einer Vielzahl von Gründen. Darunter sind der demografische Rückgang in Europa wie auch eine Bevölkerungsexplosion in Afrika; die scheinbar ewigen politischen und militärischen Konflikte in den Grenzgebieten; und der Klimawandel.

Die Vereinbarung mit der Türkei ist in ihrer Absicht problematisch. Ihre Voraussetzung nämlich - dass die Asylsuchenden legal in die Türkei zurück können - ist grundlegend falsch. Für die meisten Syrer handelt es sich bei der Türkei nicht um ein "sicheres Drittland", insbesondere nicht nach dem gescheiterten Putsch im Juli.

Wie würde ein umfassender Ansatz denn aussehen? Wie auch immer dieser am Ende aussähe, er müsste auf sieben Säulen beruhen.

Zunächst müsste die EU eine substanzielle Zahl an Flüchtlingen direkt aus den Frontländern aufnehmen und das in einer sicheren und geordneten Art und Weise. Das wäre bei weitem akzeptabler für die Öffentlichkeit, als das momentane Durcheinander. Selbst wenn die EU eine Zusage für nur 300.000 Flüchtlinge im Jahr macht, würden sich die echten Asylsuchenden ihre Chancen auf das Erreichen ihres Zieles ausrechnen, und es würde genügen, um sie davon abzuhalten illegal nach Europa zu kommen - was sie vom Erhalt eines legalen Status disqualifiziert.

Zweitens muss sich die EU wieder die Kontrolle über ihre Grenzen zurückholen. Es gibt wenig, was die Öffentlichkeit mehr verwundern lässt und abschreckt, als chaotische Szenen.

Drittens muss die EU endlich angemessene finanzielle Mittel aufbringen, um eine umfassende Migrationspolitik betreiben zu können. Es wird geschätzt, dass über eine längere Zeit pro Jahr mindestens 30 Milliarden Euro gebraucht werden und die Vorteile einer Vorabfinanzierung [sic!, d.R.] des Ganzen sind enorm.

Viertens gilt es, einen EU weiten gemeinsamen Mechanismus zur Grenzsicherung, der Beurteilung von Asylanträgen und zur Umsiedlung der Flüchtlinge aufzubauen. Ein einziger europäischer Asylprozess würde die Anreize verringern, für das Asylshopping und das Vertrauen zwischen den Mitgliedsländern wieder herstellen.

Fünftens wird ein freiwilliger Mechanismus für die Umsiedelung der Flüchtlinge benötigt. Die EU kann nicht ihre Mitgliedsstaaten dazu zwingen Flüchtlinge anzunehmen, die sie nicht wollen, oder Flüchtlinge, die nicht dorthin wollen. Ein Muster wie das kanadische könnte passende Flüchtlings-Aufnahmeland-Paare zueinanderbringen.

Sechstens, die EU muss jenen Ländern eine weit größere Hilfe zusagen, in denen die Flüchtlinge sich befinden und sie müssen weitaus großzügiger werden in ihrem Vorgehen in Afrika. Anstatt die Entwicklungshilfe nach den eigenen Bedürfnissen auszurichten sollte die EU großzügige Angebote machen, die so ausgerichtet sind, dass es den Empfängerländern hilft. Das bedeutet, dass Arbeitsplätze in den Heimatländer der Flüchtlinge geschaffen würden, was am Ende den Migrationsdruck nach Europa verringert.

Die letzte Säule besteht in der Erschaffung einer Willkommenskultur für Wirtschaftsmigranten. Angesichts Europas alternder Bevölkerung überwiegen die Vorteile der Migration bei weitem die Kosten der Einwandererintegration. All Beweise unterstützen die Schlussfolgerung, dass Migranten bedeutend zur Innovation und Entwicklung beitragen können, wenn man ihnen die Gelegenheit dazu gibt.

Mit der Verfolgung dieser sieben Ansätze, die anderswo detaillierter ausgeführt werden, ist es elementar die Ängste der Öffentlichkeit zu beruhigen, die chaotischen Migrationsflüsse zu reduzieren, und sicherzustellen, dass die Neuankömmlinge voll integriert werden, dass Beziehungen zum gegenseitigen Vorteil mit den mittelöstlichen und afrikanischen Ländern aufgebaut werden, und dass Europa seine internationalen humanitären Verpflichtungen erfüllt.

Die Flüchtlingskrise ist nicht die einzige Krise in Europa, aber es ist die drängendste. Und sollte beim Flüchtlingsthema bedeutende Fortschritte erzielt werden, dann wären andere Themen - von der weiter schwelenden griechischen Schuldenkrise, über die Nachwehen des Brexit bis zu den Herausforderungen mit Russland - einfacher anzugehen. Alle Teile müssen zusammenpassen, allerdings bleiben die Chancen auf Erfolg gering. So lange es aber eine Strategie gibt, die von Erfolg gekrönt werden könnte, sollte sich jeder mit dem Interesse an einem Fortbestand der EU dahinter versammeln.


Im Original: Saving Refugees to Save Europe

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