Donnerstag, 4. August 2016

The Spectator: Syriens Warlords waren einst unbedeutende Personen. Heute sind sie reiche Männer und halten sich Sexsklaven



Der IS verliert Boden an andere islamistische Milizen, die ein Interesse am Fortbestand des Bürgerkrieges haben. Von Paul Wood. 6. August 2016

Gestern erst sprach ich mit einem kurdischen Journalisten, der 10 Monate lang vom IS gefangen gehalten wurde. Er und ein Kollege hatten das Pech in Syrien in einen IS Kontrollpunkt hineinzugeraten. "Wie hälst du dein Mittagsgebet ab?" wurden sie gefragt, nachdem ihr Auto angehalten wurde. Unfähig zu antworten - sie waren keine Gläubigen - wurden sie sofort auf den Kopf geschlagen. Dann wurde einer der Dschihadisten auf den Rücksitz ihres Autos befördert und sie mussten zur IS Basis fahren. Die Kämpfer hielt seine Waffe die ganze Zeit auf sie gerichtet, was völlig überflüssig war, weil er auch einen Sprengstoffgürtel trug. "Macht eine Bewegung und ich sprenge mich in die Luft," sagte er. "Wir werden alle zusammen sterben."

An der Basis war der Emir, oder Kommandeur, so erfreut über die beiden ungläubigen Gefangenen, dass er zu seinem Radio ging und die gute Nachricht verbreitete. "Alle Einheiten, alle Einheiten," rief er fröhlich aus: "Wir haben zwei Journalisten. Danke an Gott." Er befahl, sie in Handschellen zu legen, mit einer Augenbinde zu versehen und sie ins Gefängnis zu bringen. Einige Zeit später kamen sie in der Zelle an, wo sie irgendwann einen Zellengenossen bekamen. Es war der Emir, der ihre Verhaftung anordnete. Es scheint, als habe er die wohlhabenden Moslems vor Ort zu Ungläubigen erklärt, um an ihr Geld heranzukommen - aber trieb es zu weit und wurde selbst ins Gefängnis gesteckt.

Der Emir war ein Syrer in seinen späten Zwanzigern. Als die Revolution begann meldete er sich freiwillig bei der Freien Syrischen Armee (FSA). Danach schloss er sich Al-Nusra, einer Al-Kaida Gruppe in Syrien an. Zuletzt lief er über zum Islamischen Staat, weil sie näher bei Gott waren und weil sie ihm ein Auto und ein Haus gaben. Er verbrachte seine Zeit in der Zelle damit, andere Gefangene zu quälen, weil sie Ungläubige waren, aber "vor allem wollte er über Mädchen reden", sagte der kurdische Journalist. Die Geschichte des Emir beinhaltete viele bekannte Elemente: Der Übergang von der FSA über Nusra zum IS; die Gier und Korruption so vieler Revolutionäre, darunter jene, die behaupten, nach religiösen Motiven zu handeln; und die lachhafte Heuchelei - personifiziert in den lächerlich sexbesessenen Zellengesprächen des Emirs - die all jene umgibt, die sich in eine schwarze Flagge einhüllen, um dann anderen vorzuschreiben, was moralisch ist.

Viele IS Kämpfer haben sich gemeldet, weil der Islamische Staat am stärksten war, das meiste Geld hatte und die erfolgreichste Gruppe war. Nun aber sehen sie aus wie Verlierer, die Fahnenflucht verstärkt sich mit der Beschleunigung des Zerfalls des "Kalifats", den dieses Magazin bereits im Januar prognostiziert hat, und der vermutlich jetzt gerade Fahrt aufnimmt. Der größte Verlust war die wichtige Stadt Manbij. Der Kampf dauert noch an, aber die Kommandeure der heranrückenden kurdischen Kräfte sagen, die IS Kämpfer rasieren mittlerweile ihre Bärte ab und versuchen in der Menge der Flüchtlinge unterzutauchen. Einige wurden sogar als Frauen verkleidet geschnappt. Gerade einmal vor einem Monat hat der IS laut örtlichen Aktivisten eine ganze Familie exekutieren lassen, darunter zwei Kinder, weil sie die Flucht gewagt haben.

Natürlich wird der Dschihad des sogenannten Islamischen Staates gegen den Westen auch dann noch weiter gehen, wenn das Kalifat schon lange wieder Geschichte sein wird. Tatsächlich wird sein Tod wie ich hier im Januar schon schrieb eine höhere Zahl an Toten im Westen zur Folge haben, obwohl es scheint, dass die kürzlichen furchtbaren Anschläge in Frankreich und Deutschland die Arbeit von (möglicherweise psychisch kranken) Individuen waren, und deren Taten nur nachträglich von der IS Führung für sich behauptet wurden. Syriens endloser Krieg wird weiter gehen, weil der IS nur eine Ecke des Schlachtfeldes besetzt. Vor einiger Zeit dieses Jahr hat eine Denkfabrik eine griffige Grafik erstellt, um den syrischen Konflikt zu erfassen. Unterschiedlich farbige Linien zeigten wer wen tötet, wer wen mit Waffen ausrüstet, und wessen Geld den Krieg am brodeln hält. Es sah aus wie der komplizierteste Ameisenhaufen der Welt; es erinnerte mich auch an ein kreisrundes Erschiessungskommando.

Der Konflikt wird zunehmend komplizierter. Etwa das Amerikanische Angebot an Russland für eine Allianz, um gemeinsam Nusra zu bombardieren, also Al-Kaida in Syrien. Nusra hat dann schlauerweise seinen Namen geändert und angekündigt, dass sie die Verbindung zu Al-Kaida trennen würden. Viele US-Vertreter denken, dass es ein Trick war. Sollten die Amerikaner aber ernst machen und bombardieren, dann wäre es ein weiteres Beispiel, wie die USA buchstäblich auf beiden Seiten des Krieges kämpfen. Russische Militärquellen sagten kürzlich, dass einer ihrer Helikopter in Syrien von einer amerikanischen TOW Rakete abgeschossen wurde. Vermutlich war es der IS - und sollte es so sein, dann ist nicht klar, wie sie an die Waffe kamen - aber im Grunde genommen hätte jede der Rebellengruppen die Rakete abfeuern können. Russland bringt sie in großen Zahlen um, wie auch eine große Zahl an Zivilisten in ihrem Bemühen Präsident Assad an der Macht zu halten.

Die offizielle Amerikanische Politik besteht noch immer in der Absetzung von Präsident Assad. Aber sollten sie Russland dabei helfen, die effektivste Anti-Regimerebellen zu treffen, also die ehemals Nusra genannte Gruppe, dann werden die Russen mehr Bomben übrig haben, um sie auf andere Rebellen zu werfen, und zwar jene, welche die Amerikansiche Unterstützung geniessen. Die Verrücktheit geht aber weiter. Die US-Luftangriffe soll den Kurden in Syrien, der YPG helfen, den effektivsten Gegnern des IS. Doch diese sind ein stiller Verbündeter des Regimes, und leisten sich Gefechte mit den arabischen Rebellen die von den Amerikanern unterstützt werden. Beide befinden sich nun in einem Wettbewerb, das vom IS verlassene Territorium zu besetzen, nachdem diese sich in Nordsyrien auf dem Rückzug befinden. Und da die US gestützte YPG durch den Norden marschiert, kommen sie immer wieder in das Fadenkreuz der türkischen Artillerie, Amerikas NATO Verbündetem. Währenddessen finden sich die USA im Kampf gegen den IS im Irak in der Position der Luftwaffe für die schiitischen Milizen wieder, die vom Iran finanziert und kommandiert werden.

Die USA sind nicht die einzigen mit einer strategischen Inkohärenz. Jahrelang hat die Türkei dem IS sichere Häuser bereitgestellt und die Versorgungslinien für Freiwillige und Material über die syrische Grenze offen gehalten. Der IS bekämpfte die Kurden und die Logik der Türkei bestand vermutlich darin, dass die Dschihadisten den kurdischen Nationalismus unter Kontrolle halten würden. Nun aber sprengen sich Selbstmordattentäter des IS in der Türkei in die Luft und es gibt wohl tausende dschihadistischer "Schläfer" im Land, wie eine Geheimdienstquelle meinte. Die Kurden in Syrien haben es trotz allem geschafft, etwas aufzubauen, das aussieht, wie ein eigener Staat und mobiliesieren damit den Widerstand im bitteren Konflikt mit der Türkei und seinen Kurden an der Grenze. (seit dem gescheiterten Putsch letzten Monat sind Militär und Sicherheitskräfte der Türkei mit inneren Angelegenheiten beschäftigt, sodass der Kampf gegen den IS und die Kurden zurückstehen muss.)

Einen Krieg gegen die Türkei zu beginnen, oder diesen eskalieren zu lassen macht aus Sicht des Islamischen Staates überhaupt keinen Sinn. Vom IS wird angenommen, dass er fünf bis sieben Anschläge in der Türkei verübte. Die Lehre aus Afghanistan und vielen anderen Ländern ist, dass es fast unmöglich ist, eine Rebellengruppe zu schlagen, die ein sicheres Rückzugsgebiet hat - und doch ist es genau das, was der IS sich selbst versagte, als er auf türkischem Boden zuschlug. Es machte auch keinen Sinn für den IS, so viele seiner Kämpfer in den bitteren Kämpfen gegen die Nusra zu verlieren. Ihre Ideologien sind fast identisch - tatsächlich waren sie vor der Trennung eine Organisation - und doch war ihr Nebenkrieg blutig genug, um den Kampf gegen das Regime zu überschatten.

Nusra, wie es sich nannte, scheint es zu schaffen. Laut einiger Berichte haben sie seit dem Frühjahr 3-4.000 neue Rekruten in Nordsyrien gewonnen. Das ist einer der Gründe, weshalb die USA die Angriffe vorschlugen, obwohl es weniger als ein Jahr her ist, seitdem der EX-CIA Direktor und Afghanistankommandeur General David Petraeus den Standpunkt vertrat,dass Teile von Nusra gedreht werden könnten, um mit den Amerikanern zusammen den IS zu bekämpfen. Sollten die USA nun bombardieren, dann wird es die Nusra sehr wahrscheinlich wieder zu Al-Kaida treiben.

Der zweite große Begünstigte des gegenwärtigen Chaos ist Präsident Assad. Es gibt zunehmend Maßnahmen, die ihn rehabilitieren und statt den Dschihadisten als neuerliche Alternative ins Spiel bringen. Lange Zeit gab es einen Glaubensgrundsatz unter den schwindenden Anhängern der "moderaten" Opposition,dass Assad selbst die Dschihadistenbewegung angeheizt hat, dass er sich einen Feind erschuf, um sein eigenes Volk zu vereinen und internationale Unterstützung zu gewinnen. Dem war auch so, wie ein Kommandeur einer der größten salafistischen Rebellengruppen in Syrien mir einmal mitteilte. Er saß vor dem Aufstand im Gefängnis. Er und seine Zellengenossen bekamen alle dann wichtige Führungspositionen bei IS, Nusra und anderen Dschihadistengruppen. Sie alle wurden innerhalb von Wochen entlassen, als die Strassenproteste gegen das Regime tobten.

Einige sagen, alles sei die Schuld Amerika. Zum einen, da Präsident Obama zu Beginn des Konflikts erklärte, Assad solle gehen, und damit viele beim Aufstand dazu verleitete zu denken, sie hätten eine Supermacht zum Verbündeten, und der Sieg sei unabwendbar. Zweitens schafften es die USA dann nicht entscheidend dazwischen zu gehen - vielmehr überliessen sie das Feld Saudischen und Kuwaitischen Spendern, die den entstehenden Gruppen ihren Stempel aufdrückten. Die Menschen in den von Rebellen gehaltenen Gebieten wandten sich den Dschihadisten 2013 zu, als die Amerikaner das Regime nicht bombardierten, obwohl Präsident Obama damit drohte, nachdem es Chemiewaffenangriffe außerhalb von Damaskus gab. Aber der Charakter des bewaffneten Aufstandes war immer ein islamistischer, oder zumindest ein islamischer. Das Kriegsgeheul jeder einzelnen bewaffneten Gruppe, die ich bei etwa einem Dutzend meiner Reisen in Syrien traf war nicht "Demokratie", sondern "Gott ist größer". Das ist auch einer der Gründe, weshalb die US Ausbildungsmassnahmen trotz eines Budgets von einer halben Milliarde Dollar "nur vier oder fünf" Rebellenkämpfer hervorbrachten, wie ein peinlich berührter General letztes Jahr vor dem Kongress zugab. (Ja, diese Zahlen sind korrekt.)

Die USA hatten es nicht in der Hand, die Art des Aufstandes zu modellieren, auch wenn sie diesen vielleicht in eine etwas moderatere Richtung hätten drücken können. Das wird in den letzten Monaten von Obamas Präsidentschaft auch sicherlich nicht mehr passieren - aber auch ein etwas engagierterer US Präsident hätte seine Probleme damit, die treibenden Kräfte des Konflikts zu kontrollieren. Alle Kriegsparteien wurden durch die Kämpfe korrumpiert und degeneriert. Letzten Monat gab es ein Bericht, wonach die US unterstützte Noureddine Zinki Brigade in Aleppo vor einer gröhlenden Menge einen 12 jährigen Jungen enthauptete. Von dem Kind wurde gesagt, dass es im Kampf für eine pro-Regime Miliz gefangen genommen wurde.

Syriens Agonie wird weitergehen, nicht nur wegen der politischen Großwetterlage, sondern vielmehr, weil so viele Rebellenführer zu Beginn des Krieges mit nichts begannen - und nichts waren - und nun haben sie alles. Ein Brigadenkommandeur verdiente seinen Lebensunterhalt als Ziegelsteinbrenner und heute fährt er einen BMW. Zwei Jesidenschwestern sagten mir, dass der "Emir", der sie als Sexsklaven kaufte davor im Dorf ein Tagelöhner war, der ihren Vater um Arbeit anbettelte. Jener Emir, der die kurdischen Journalisten gefangen nahm mag vielleicht im Gefängnis gelandet sein, aber es gibt so viele wie ihn, und für sie alle ist der Krieg ein Geschäft. Und das Geschäft läuft gut.


Im Original: Syria’s warlords were nobodies. Now they are rich men with sex slaves

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