Freitag, 24. Juni 2016

The Independent: Schariagerichte haben vermutlich dabei geholfen, das Osmanische Reich zu stürzen



Da die Gerichte die Eliten der osmanischen Gesellschaft bei Vertragsangelegenheiten bevorzugt behandelt haben, mussten sie höhere Zinsen zahlen, was die Investitionsrate drückte als die industrielle Revolution begann. Von Ian Johnston, 22. Juni 2016

Die Bevorzugung der Schariagerichte gegenüber wohlhabenden muslimischen Männern während der Zeit des osmanischen Reiches hat zu dessen Untergang beigetragen, wie eine großangelegte Studie nachweist, bei der Gerichtsfälle im Zeitraum von 200 Jahren untersucht wurden.

Ein amerikanischer Ökonom schaute sich die Urteile zwischen 1602 und 1799 an und bemerkte, dass die Richter versuchten, Personen zu helfen, die "als würdig erachtet wurden", wobei dies "ungewollte Konsequenzen" nach sich zog.

Da die osmanischen Eliten sich bei Vertragsstreitigkeiten auf das Wohlwollen der Gerichte verlassen konnten mussten sie deutlich höhere Kreditzinsen zahlen als Frauen, Nicht-Moslems und Arme, deren Kredite weniger wahrscheinlich ausfielen, da sie rechtliche Konsequenzen zu befürchten hatten.

Dies, so meint Professor Timur Kuran in seinem Beitrag im Economic Journal hat am Ende die Investitionen behindert und das zu einer Zeit als in Europa die industrielle Revolution begann.

Er fügte an, dass das Recht in westlichen Ländern heute ganz ähnlich wirkt, aber in einem anderen Teil der Gesellschaft. Da das Gesetz heute Arme begünstigt und sie vor ihren Gläubigern schützt sind sie teilweise dazu gezwungen, auf Kredithaie zurückzugreifen, die hohe Zinsen verlangen, wogegen wohlhabende Menschen nur wenige Prozent zahlen müssten, wie er meinte..

Professor Kuran von der Duke Universität sagte, die osmanischen Schariarichter versuchten jenen zu helfen, die einen hohen sozialen Status hatten.

"Was wir hier sehen sind ungewollte Konsequenzen. Die Gerichte versuchten, Gruppen zu helfen, von denen sie annahmen, dass sie es wert seien," schrieb er.

"Die ungewollte Konsequenz bestand darin, dass sie als weniger vertraunswürdig eingestuft wurden und sich dadurch die Kosten für das Geldleihen erhöht haben. Die Beeinflussung durch die Gerichte machte es riskant, priviligierten Gruppen Geld zu leihen. Die Gerichte gaben den Priviligierten nämlich den Anreiz ihre Verträge zu brechen.

"Juristisch bevorzugte Gruppen zahlten am Ende mehr für Kredite, weil ihre Verprechen relativ betrachtet weniger wert waren."

Bei Frauen beispielsweise bestand ein geringes Fluchtrisiko bei einem geschäftlichen Bankrott, da sie aufgrund der Gesetze nur eingeschränkt ohne Mann reisen durften.

Das bedeutete, ihre "Kreditwürdigkeit" war viel besser als die der Männer, die ganze 26 Prozent mehr an Zinsen zahlen mussten.

"Bei wohlhabenden, vornehmen und mächtigen Personen war es wahrscheinlicher als bei anderen, dass sie ihren Vertrag nicht erfüllten," sagte Professor Kuran. "Und sie hatten gute Chancen vor Gericht damit davon zu kommen."

In der industriellen Revolution entstanden überall in Europa Fabriken, die überwiegend von wohlhabenden Investoren finanziert wurden, denen es möglich war große Summen zu leihen.

Das osmanische Reich war eine führende Macht im 16. Jahrhundert, als seine Armeen sogar bis an Wien heranrückten.

Aber sie schafften den Sprung in die Industrialisierung nicht und wurden im 19. Jahrhundert als "Kranker Mann Europas" bezeichnet.

Professor Kuran sagte, die hohen Zinsen für die Wohlhabenden hätten die Wirtschaft gehemmt.

"Für Erfolge in der Massenproduktion brauchte es plötzlich viel mehr Kapital als davor," sagte Professor Kuran.

"Dadurch wurde es zum Handicap, dass dafür hohe Zinsen verlangt wurden."

Schariagerichte verbreiten sich heute zunehmend im Mittleren Osten und Professor Kuran sagte, seine Forschungen hinsichtlich ihres finanziellen Einflusses "hilft zu erklären, weshalb die Rückkehr der Scharia die exakt falsche Medizin für die Region ist".

Aber er sagte, dass auch die Rechtslage im Westen für die Armut mitverantwortlich sei.

"Insolvenzgesetze können unbeabsichtigte Konsequenzen haben und genau jene Gruppe negativ treffen, die sie schützen soll - die Armen," schrieb Professor Kuran.

"Je schwerer man es den Verleihern macht, ihre Verluste bei Insolvenzen wett zu machen, desto stärker steigen die Kreditkosten für die Gruppe. Gesetze, die geschaffen wurden um Arme zu schützen könnten sich daher in Form von Nachteilen auf den Finanzmärkten auswirken."

"Solche Gesetze könnten einer der strukturellen Gründe von moderner chronischer Armut sein."

Er betonte dazu, dass er nicht für die Abschaffung der Insolvenzgesetzgebung sei, sagte aber, dass weitere Nachforschungen gemacht werden könnte, um die Gesetze so zu ändern, dass es leichter wird an Kredite zu kommen.


Im Original: Sharia courts may have helped bring down the Ottoman Empire

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