Mittwoch, 8. Juni 2016

Economist: Unter Feuer


Die Grenzen der freien Rede werden enger. Es ist Zeit, dies anzusprechen. 4. Juni 2016


In gewissem Sinn ist dies eine goldene Zeit der Redefreiheit. Jedes Smartphone kann innerhalb von Sekunden Zeitungen von der anderen Seite der Welt empfangen. Mehr als eine Milliarde Twitternachrichten, Facebookeinträge und Blog Artikel werden jeden Tag veröffentlicht. Jeder mit Zugang zum Internet kann zum Publizisten werden und jeder, der Wikipedia aufruft, betritt einen digitalen Himmel, wo Amerikas erster Verfassungszusatz  regiert.

Allerdings berichten Beobachter, dass es zunehmend gefährlicher wird sich zu äußern - und sie haben Recht. Wie unser Bericht zeigt, werden die Grenzen der freien Rede immer enger gezogen. Ohne den Wettbewerb der Ideen aber ist die Welt ängstlich und ignorant.

Die Redefreiheit wird von drei Seiten angegriffen. Ersten hat sich die Repression durch Regierungen intensiviert. Mehrere Länder haben Kontrollen wie im Kalten Krieg wiedereingeführt, oder neue erschaffen. Seit dem Zusammenbruch der Sowjet Union genießt Russland eine freie und vitale Debatte. Unter Wladimir Putin aber wurde der Maulkorb wieder aufgesetzt. Alle Hauptnachrichtensendungen werden mittlerweile vom Staat oder von Putins Umfeld kontrolliert. Journalisten, die bohrende Fragen stellen, werden nicht mehr ins Arbeitslager geschickt, aber mehrere wurden ermordet.

Chinas Präsident Xi Jiping ordnete ein scharfes Vorgehen an, nachdem 2012 an die Macht kam und hat die Zensur in den Sozialen Medien verschärft, hunderte von Dissidenten verhaftet und die liberale Debatte an den Universitäten ersetzt durch eine extra Portion Marxismus. Im Mittleren Osten hat der Sturz von Despoten dazu geführt, dass die Menschen das erste Mal seit Generationen offen sprechen konnten. Dies blieb so in Tunesien, aber Syrien und Libyen sind gefährlicher für Journalisten als sie es vor den Aufständen waren; und Ägypten wird nun von einem Mann regiert, der mit einem ernsten Gesicht sagt: "Hört auf niemanden, als auf mich."


Worte, Stöcke und Steine

Zweitens gibt es eine beunruhigende Zahl an nichtstaatlichen Akteuren, die Zensur per Mord ausüben. Journalisten, die in Mexiko Verbrechen oder Korruption untersuchen werden oftmals ermordet und manchmal davor sogar gefoltert. Dschihadisten schlachten jene ab, von denen sie denken sie würden ihren Glauben beleidigen. Wenn Autoren und Künstler etwas sagen, das auch nur im geringsten respektlos gegenüber dem Islam sein könnte, dann gehen sie ein Risiko ein. Sekuläre Blogger in Bangladesch werden auf der Strasse zu Tode gehackt; französische Karikaturisten werden in ihren Büros erschossen. Die Dschihadisten schaden Moslems dabei mehr als allen anderen, da sie es zumindest schwieriger machen, eine ehrliche Diskussion zu führen wie sie ihre Gesellschaften organisieren wollen.

Drittens hat sich die Vorstellung verbreitet, dass Menschen und Gruppen das Recht hätten nicht beleidigt zu werden. Das mag zunächst harmlos klingen. Höflichkeit ist nach wie vor eine Tugend. Aber wenn ich das Recht habe nicht beleidigt zu werden, dann muss auch jemand darüber wachen, was man über mich sagt, oder über die Sachen die mir lieb sind, wie auch über meine ethnische Gruppe, meine Religion, oder gar meine politischen Überzeugungen. Da Beleidigtsein darüber hinaus auch ein subjektives Empfinden ist, müsste die Polizei dafür sowohl umfassend als auch willkürlich.

Nichtsdestotrotz glauben viele Studenten in Amerika und Europa, dass es jemand umsetzen sollte. Es ist ein Rückzug in die Absolutheit der identitären Politik, die meint, dass niemand das Recht hätte sich gegen den Feminismus auszusprechen, oder Weiße sich zur Sklaverei äußern dürften. Andere haben geistreiche und bekannte Redner blockiert, beispielsweise wurden Condoleezza Rice und Ayaan Hirsi Ali von Auftritten auf dem Campus abgehalten.

Besorgnis über die Opfer von Diskriminierung ist löblich. Und Studentenproteste sind oft als solche ein Akt der Redefreiheit. Aber die Universität ist ein Ort, wo von Studenten erwartet wird, dass sie das denken lernen. Dieses Ziel ist unmöglich erreichbar, wenn unangenehme Ideen abgelehnt werden. Und Protest kann leicht in die Lächerlichkeit abgleiten: Die Universität von Kalifornien beispielsweise hält es für eine rassistische "Mikroaggression", wenn man sagt "Amerika ist das Land der Möglichkeiten", da es implizieren könnte, dass jene die davon nicht profitieren selbst daran schuld sind.


Die unangenehme Wahrheit

Die Intoleranz unter westlichen Liberalen hat auch völlig unbeabsichtigte Konsequenzen. Selbst Despoten wissen, dass es dem Ruf schadet, wenn man großmäulige aber gewaltfreie Dissidenten den Mund verbietet. In fast allen Ländern gibt es Gesetze, welche die Redefreiheit beschützen. Daher haben autoritäre Systeme immer schon nach respektabel klingenden Ausreden gesucht, um damit um sich zu schlagen. Nationale Sicherheit ist eine davon. Russland hat kürzlich den Blogger Vadim Tyumentsov zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, weil er "Extremismus" verbreiten würde, nachdem er die russische  Ukrainepolitik kritisierte. "Hassrede" ist eine andere. China hat damit Aktivisten, die für die tibetanische Unabhängigkeit eintreten verhaftet, weil sie "ethnischen Hass verbreiten" würden; Saudi Arabien lässt Blasphemiker auspeitschen; Inder können bis zu drei Jahre im Gefängnis landen, wenn sie Disharmonie verbreiten bei "Religion, Rasse...Kaste... oder aus irgend einem anderen Grund".

Die Gefahr für die Redefreiheit an westlichen Universitäten ist sehr verschieden von der, welche Atheisten in Afghanistan oder Demokraten in China erleben. Aber wenn progressive Denker darin übereinstimmen, dass beleidigende Worte zensiert gehören, dann hilft es autoritären Regimen dabei, ihre eigenen, viel härteren Einschränkungen zu rechtfertigen und intolerante religiöse Gruppen ihre Gewalt. Wenn Menschenrechtsaktivisten gegen das protestieren, was in Unterdrückungsregimen passiert, dann können Despoten mit dem Finger auf liberale Demokratien wie Frankreich oder Spanien zeigen, wo man ebenso kriminalisert werden kann für die "Glorifizierung" oder "Verteidigung" von Terrorismus und viele westliche Länder machen es zu einem Verbrechen, wenn man eine Religion beleidigt oder zu Rassenhass anstachelt.

Ein Halbstarker, der es geniest, in der Wunde westlicher Heuchelei herumzupuhlen ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. ZU Hause will er keine Beleidigungen gegen seine Person tolerieren, noch seinen Glauben oder seine Politik. Im Ausland fordert er die selbe Rücksicht - und in Deutschland hat er sie gefunden. Im März hat ein deutscher Comedian ein satirisches Gedicht über ihn vorgetragen, wie er "Ziegen fickt und Minderheiten unterdrückt" (wobei nur der ernstere Vorwurf stimmt). Herr Erdogan berief sich auf ein altes, verstaubtes deutsches Gesetz, wonach ausländische Staatsoberhäupter nicht beleidigt werden dürfen. Verblüffenderweise hat die deutsche Kanzlerin Angela Merkel dem stattgegeben und die Anzeige zugelassen. Noch verblüffender war, dass neun weitere Europäische Länder vergleichbare Gesetze haben und 13 haben selbiges für ihr eigenes Staatsoberhaupt.

Meinungsumfragen zeigen, dass die Unterstützung für die Redefreiheit nur lauwarm und mit Bedigungen verhaftet ist. Wenn Worte ärgern, dann hätten die Menschen gerne, dass die Regierung oder eine andere Autorität die Aussprecher zum Schweigen gebracht werden. Eine Gruppe islamischer Länder versuchen gerade, die Religionsbeleidigung zu einem Verbrechen nach internationalem Recht zu machen. Sie haben Aussicht auf Erfolg.

Daher ist es an der Zeit im Detail zu erklären, wie sehr die Redefreiheit die Basis aller Freiheiten ist. Redefreiheit ist die beste Verteidigun gegen eine schlechte Regierung. Politiker, die irren (also alle von ihnen) müssen die Kritik ungeschminkt ins Gesicht gesagt bekommen. Jene, die es hören könnten darauf reagieren; jene die den Redner zum Schweigen bringen werden vielleicht nie herausfinden, wie ihre Politik fehlschlug. Wie Nobelpreisträger Amartya Sen meinte, noch nie hat eine Demokratie mit Redefreiheit eine Hungersnot erlebt.

In allen Lebensbereichen trennt die freie Debatte gute Ideen von schlechten. Wissenschaft kann sich nicht entwickeln, wenn alte Gewissheiten nicht infrage gestellt werden dürfen. Das Tabu ist der Feind des Verstehens. Wenn Chinas Regierung seinen Ökonomen anordnet positive Prognosen zu erarbeiten, dann garantieren sie sich selbst, dass ihre eigenen Politikentscheidungen auf schlechten Informationen basieren. Wenn amerikanische sozialwissenschaftliche Fakultäten nur linke Professoren einstellen, dann verdient es ihre Forschung nicht ernstgenommen zu werden.

Das Gesetz sollte das Recht auf die freie Meinungsäußerung quasi absolut garantieren. Ausnahmen sollten selten sein. Kinderpornografie sollte verboten sein, da dessen Produktion den Missbrauch von Kindern voraussetzt. Staatsapparate müssen einige Sachen geheim halten: Redefreiheit bedeutet nicht, das Recht die Passwörter für die Atomwaffen zu veröffentlichen. Aber in den meisten Bereichen, wo Aktivisten nach erzwungener Höflichkeit rufen (oder noch schlimmer nach deren Verteidigung), sollte ihnen widerstanden werden.

Blasphemiegesetze sind ein Anachronismus. Eine Religion sollte zur Debatte stehen dürfen. Gesetze gegen Hassrede sind kaum definierbar und werden umfassend missbraucht. Das Verbieten von Worten oder Argumenten, weil sie von einer Gruppe als verletzend empfunden werden führt nicht zu sozialer Harmonie. Im Gegenteil, es gibt jedem den Anreiz sich beleidigt zu fühlen - eine Tatsache, die opportunistische Politiker, die auf ethnischer Basis argumentieren schnell ausnutzen.

Die Anstachelung zur Gewalt sollte verboten sein. Allerdings sollte es eng definiert sein, etwa wenn jemand alle die ihm zustimmen dazu anstachelt Gewalt auszuüben, und wenn seine Worte wahrscheinlich unmittelbare Folgen haben. Einem verärgerten Mob vor einer Synagoge "Lasst uns die Juden umbringen" zurufen würde dazuzählen. In betrunkenem Zustand "Ich wünschte, alle Juden wären tot" bei Facebook schreiben wäre es eher nicht. Etwas beleidigendes über eine Gruppe zu sagen, deren Mitglieder dann anfangen zu randalieren gehört sicher nicht dazu. Sie sollten mit Worten reagieren, oder mit Ignoranz gegenüber dem Idioten, der die Beleidigung ausgesprochen hat.

In unbeständigen Ländern wie Ruanda und Burundi sind es andere Worte, die zur Gewalt führen als in stabilen Demokratien. Aber das Prinzip ist das gleiche. Die Polizei sollte auf ernste und unmittelbare Gefahren reagieren, und nicht jeden Frömmler mit einem Laptop oder einem Megafon verhaften. (Die Regierungen von Ruanda und Burundi zeigen leider keine derartige Zurückhaltung.)


Eine Onlineareopagitica

Facebook, Twitter und andere digitale Giganten sollten als Privatorganisationen frei sein in der Entscheidung, was sie auf ihren Plattformen erlauben und was nicht. Nach der selben Logik sollte eine private Universität innerhalb der gesetzlichen Grenzen frei sein in der Entscheidung, welche Sprachregelungen sie ihren Studenten auferlegen. Wer die Regeln einer christlichen Universität bezüglich Fluchen, Pornografie und atheistischen Äußerungen nicht mag, der kann sich anderswo einschreiben. Allerdings sollte jede öffentliche Universität und jede Universität mit dem Anspruch, die Studenten intellektuell zu bilden sie auch vor herausfordernde Ideen stellen. Die Welt außerhalb der Uni wird sie oft beleidigen; sie müssen lernen, wie man zurückschlägt mit friedlichem Protest, mit Rhetorik und Ratio.

Dies sind gute Regeln für alle. Man darf nie versuchen Ansichten zu unterdrücken, mit denen man nicht einverstanden ist. Eine fragwürdige Rede beantwortet man am besten mit einer Rede. Man muss das Argument gewinnen, ohne zur Gewalt zu greifen. Und sich eine dickere Haut zulegen.


Im Original: Under attack

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